Erste Überlegungen zur Überwindung der Katharsis im Humanistischen Psychodrama

Hans-Werner Gessmann

Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes Κάθαρση und einer grundlegenden Erläuterung des Begriffes, welche ihren Ausgangspunkt in der Tragödientheorie des Aristoteles nimmt, soll zunächst die Freudsche Konzeption der Katharsis skizziert werden. Im Anschluss daran werden zentrale Positionen zur Katharsis im Klassischen Psychodrama untersucht und schließlich mit der Position des Humanistischen Psychodramas zur Katharsis kontrastiert.

Vorbemerkung

Unter dem Begriff der Katharsis versteht man in der Psychotherapie ein „Sichbefreien von unterdrückten Emotionen bzw. Spannungen im Sinne einer Abreaktion“ (Burkart, 1972, S. 128), resp. „die Befreiung von psychischen Traumen durch intensives emotionales Erinnern und Nachholen“ (Faktum, S. 215).

Das Psychodrama gilt nun als eine psychotherapeutische Methode, die in besonderem Maße Gefühlsäußerungen ermöglicht und fördert. Battegay etwa bezeichnet das Psychodrama als „kathartische Methode“: „Es werden Emotionen, die vielleicht bisher unbewusst waren oder hintan gehalten wurden, aktiviert und zum ‚Überlaufen’ gebracht. Das Wiedererleben alter, aber nicht erloschener Konflikte ist nicht nur eine Wiederholung, sondern bewirkt eine Befreiung.“ (Battegay, 1972;2)

Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes kaqarsis und einer grundlegenden Erläuterung des Begriffes, welche ihren Ausgangspunkt in der Tragödientheorie des Aristoteles nimmt, soll zunächst die Freudsche Konzeption der Kathar­sis skizziert werden. Im Anschluss daran werden zentrale Positionen zur Katharsis im Klassischen Psychodrama untersucht und schließlich mit der Position des Humanistischen Psychodramas zur Katharsis kontrastiert.

  1. Wortbedeutung und Tragödientheorie des Aristoteles

Im Griechischen bedeutet Katharsis ursprünglich Reinigung oder Sühnung, was gewöhnlich durch Besprengung mit Wasser oder dem Blut eines Opfertieres vorgenommen wurde. Zudem wurde die Weihereinigung bei den Eleusini­schen Mysterien als Katharsis bezeichnet. Auch die Bedeutung einer Angleichung oder Entladung von Leiden bzw. Affekten lässt sich finden (Gemoll 1965, S. 396). Von den hippokratischen Ärzten wurde der Begriff als Reinigung ganz im somatischen Sinne verstanden (vgl. Burkart a.a.O.).

Von Bedeutung für die spätere Rezeption des Begriffs war vor allem die Tragödientheorie des Aristoteles. „Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt“ (Aristoteles in: Fuhrmann, München, 1976). Der Begriff der Katharsis stellt somit den Zentralbegriff der aristotelischen Wirkungsästhetik der Tragödie dar. Indem sie „Jammer“ (griech. „éleos“) und „Schaudern“ (griech. „phóbos“) bewirkt, löst sie eine Reinigung, eine Befreiung des Zuschauers von eben diesen Affekten aus. „Jammer“ und „Schaudern“ waren für Aristoteles in erster Linie psychische Erregungszustände, welche sich in heftigen physischen Prozessen äußern.

Aristoteles hat damit den Begriff der Katharsis, der zuvor lediglich im medizinischen und religiösen Vokabular gebräuchlich war, eindeutig mit den Wirkungselementen Jammer und Schaudern verknüpft. Er hat jedoch die „Reinigung“ an sich nicht näher erläutert, was – je nach zeitlichem und kulturellem Hintergrund – zu einer Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen und Auslegungen geführt hat.

Die neuzeitliche Diskusssion des Katharsisbegriffes setzte mit dem Humanismus ein. Bei der üblichen Wiedergabe von „éleos“ und „phóbos“ durch die lateinischen Begriffe „misericordia“ (Mitleid) und „metus“ (Furcht) handelte es sich im Ansatz um eine Neuinterpretation. Der Begriff wurde ethisch gedeutet als Reinigung von Leidenschaften, welche in der Tragödie zur Darstellung kommen (vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Bd.11, 1990, S. 540f).

  1. Die Katharsiskonzeption der Psychoanalyse – Breuer und Freud

Die Katharsis-Konzeption der Psychoanalyse hat in den verschiedensten Anwendungsbereichen und Schulen der Psychotherapie ihren Eingang gefunden und ist letztlich auch für die Überlegungen zahlreicher Psychodrama-Theoretiker prägend geworden. Ihre Entstehung geht auf die Arbeit von Joseph Breuer zurück, welcher sich in den Jahren 1880 und 1881 mit dem Phänomen der Hysterie auseinandersetzte. Bei der Behandlung einer an Hysterie erkrankten Patientin (Symptome: Motorische Lähmungen, Bewusstseinsstörungen) gelang es ihm, diese durch Mitteilung der sie beherrschenden Gedanken und Stimmungen unter Hypnose immer wieder in eine normale seelische Verfassung zu versetzen. Durch eine konsequente Wiederholung dieses Verfahrens wurde die Patientin schließlich von ihren Symptomen befreit, was damals sowohl einen großen therapeutischen Erfolg, als auch einen entscheidenden Einblick in das Wesen der Neurose bedeutete. Breuer selbst arbeitet dann jedoch nicht auf der Grundlage dieser Erkenntnisse weiter, bis ihn Sigmund Freud mehr als ein Jahrzehnt später dazu überreden konnte, in Zusammenarbeit mit ihm diese Arbeit wieder aufzunehmen. Gemeinsam veröffentlichten sie 1893 zunächst den Text „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Vorläufige Mitteilungen“ und 1895 die „Studien über Hysterie“ (vgl. Freud, S., 1972, S. 81-312). Die Forschungen von Breuer und Freud ergaben u.a., dass mit der Aufdeckung des unbekannten Sinnes der hysterischen Symptome ihre Aufhebung erreicht werden kann. Dies geschieht mittels der Katharsis: Die hysterischen Symptome entstehen nach Breuer und Freud dadurch, dass ein mit starkem Affekt beladener seelischer Vorgang auf irgendeine Weise daran gehindert wurde, sich auf dem normalem, bis zum Bewusstsein führenden Weg auszugleichen („abzureagieren“) – auf diese Art und Weise entstehen psychische Traumen. Die Katharsis erfolgt nun durch die Eröffnung eines Weges zum Bewusstsein und die normale Entladung des Affektes.

Freud erwartete, „dass die Symptome (von) selbst verschwinden“ (Freud a.a.O., S. 8), wenn sich die Katharsis ereignet hat und er nahm an, damit seien die „seelischen Vorgänge zu einem anderen als dem bisherigen Verlaufe zu bringen, der in die Symptombildung eingemündet hat“ (ebd.).

  1. Die Katharsis im Psychodrama

In den verschiedenen Psychodrama-Schulen und Ansätzen wird das Konzept der Katharsis auf der Grundlage der eben dargestellten klassisch psychoanalytischen Konzeption von Katharsis reflektiert und angewendet. Auch im Psychodrama ist die Katharsis – so wird gesagt – eine Befreiung des Menschen von Symptombildungen, vermittelt durch eine heftige Affektäußerung, die durch eine Vergegenwärtigung im Psychodramaspiel hervorgerufen wird. Der Katharsisbegriff des Klassischen Psychodramas betont neben dem Begriff der „Abreaktion“ vor allem den Aspekt der „Neueinstellung“. Man erwartet, dass durch eine Katharsis im psychodramatischen Prozess seelische Vorgänge so zu beeinflussen sind, dass ihr Verlauf sich ändert und nicht zur Symptombildung führt.

3.1 Ausgewählte Auffassungen von Katharsis im
Psychodrama

In der Literatur der verschiedenen psychodramatischen Schulen lassen sich nuanciert verschiedenartige Auffassungen hinsichtlich Bedeutung und konkreter Ausformulierung einer Katharsiskonzeption finden. Ernst Engelke z. B. verweist in Bezug auf die Spiel-, bzw. Handlungsphase des Psychodramas auf die Wichtigkeit, eine Handlungskatharsis zu erreichen (Engelke 1981, S.17). Sigrid Löwen-Seifert betont die herausragende Bedeutung der Handlung bezüglich der Wirksamkeit psychotherapeutischer Methoden im Allgemeinen und misst dem Konzept der Katharsis im Hinblick auf den persönlichen Wandlungsprozess eine herausragende Stellung bei (vgl. Löwen-Seifert, ebenda, S.54). K. Zeintlinger-Hochreiter geht darüber hinaus, wenn sie die individuellen Effekte psychodramatischer Psychotherapie ausschließlich in der Katharsis sieht. Roland Springer hingegen sieht in Bezug auf wirksame Faktoren im Therapieprozess des Psychodramas die- im optimalen Falle zu erreichende- Katharsis nur als ein Effekt neben anderen, welcher hinsichtlich der psychischen Gesundung eines Menschen erzielt werden kann (vgl. Springer, 1995, S. 98).

Bei aller Unterschiedlichkeit wird in der deutsch- und französisch­spra­chigen Literatur die Katharsis als Wirkungsfaktor jedoch allgemein auf das psychoanalytische Modell Freuds zurückgeführt. In der amerikanischen Literatur hat demgegenüber eher ein weitergehender, an Morenos Kreativitäts- und Spontaneitätsgedanken ausgerichteter Erklärungsversuch Vorrang.

 

Ernst Engelke beruft sich auf J. L. Moreno, wenn er schreibt: “Das Ziel psychodramatischer Therapie ist […] die totale Produktion von Leben“ (Engelke, 1981, S.14; Hervorhebung im Original). Zur Erreichung dieses Ziels sei u.a. das „Aushandeln als Wirkungsmechanismus bedeutend. „Durch dramatisches Ausleben („acting out“ und Handlungskatharsis) ist ein Zugang zu tiefen Schichten der Psyche möglich, die dem verbalen Erinnern verschlossen bleiben“ (ebenda).

 

Sigrid Löwen-Seifert hebt in ihren Ausführungen den Handlungsaspekt als zentralen Wirkungsmechanismus in der Psychotherapie im Allgemeinen und in der psychodramatischer Psychotherapie im Besonderen hervor (Vgl. Löwen-Seifert, 1981, S. 46ff). Sie verweist darauf, dass die Aktion, das Handeln älter sei als die Sprache – somit könnten Erfahrungen und Störungen, welche in frühkindlichen Phasen zu Traumen führten, in der Psychotherapie mittels der Sprache nur ungenügend zum Ausdruck kommen. Zudem könne alles zur Aktion werden, was in der jeweiligen Situation für wichtig erachtet werde, so dass auf diese Weise die Möglichkeiten einer mit überwiegend sprachlichen Mitteln durchgeführten “Be-Handlung” übertroffen werden. Nach Löwen-Seifert sind solche therapeutischen Aktionen „direkt auf Bewusstwerdung und Durcharbeitung der gegenwärtigen, vergangenen, aber auch zukünftigen persönlichen Lebenssituation bezogen“ (ebenda, S.48). Die Möglichkeit dieser Aktionen, bzw. Handlungen im therapeutischen Prozess bildet nun die Grundlage und Voraussetzung für das Erleben einer echten Katharsis. Die Autorin illustriert dieses Phänomen an dem Beispiel einer im Psychodrama möglichen Begegnung des Protagonisten mit den negativen Introjekten wesentlicher Bezugspersonen. Bedeutend dabei sei, „dass im Rahmen oder als Folge solcher Begegnungen eine Versöhnung mit den negativen Introjekten dieser Bezugspersonen und damit auch mit den belastenden Phasen der persönlichen Geschichte stattfinden kann“ (Löwen-Seifert 1981, S. 54). Indem der damit verbundene Schmerz, die freiwerdende Wut bisweilen ihren Ausdruck in einem Schrei oder einem Anschreien des Vaters bei­spiels­weise finde, geschehe eine echte Katharsis. Der Autorin nach habe ein solches Erlebnis für weitere Konstellationen eine lockernde Wirkung und werde in jedem Falle als befreiend und entlastend erlebt.

 

Karin Zeintlinger-Hochreiter orientiert sich in ihrer Dissertation „Kompendium der Psychodrama-Therapie“ hinsichtlich der Katharsis wie Engelke an Moreno selbst und weist außerdem darauf hin, dass der Katharsisbegriff Morenos über die bloße Abreaktion und Befreiung von unangenehmen Gefühlen hinausgehe, indem er darüber hinaus das „Erkennen neuer Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten“ einschließe (Zeintlinger-Hochreiter, 1996, S.113). Des Weiteren führt sie unter Berufung auf Moreno einzelne Wirkungen psychodramatischer Therapie direkt auf eine erlebte Katharsis zurück, z.B. die „angemessene Verarbeitung negativer Erlebnisse“, die „Verminderung an Übertragungstendenzen“, die Verbesserung der Spontaneität und Kreativität in positive Richtung“ oder eine „Verbesserung der Begegnungsfähigkeit“ (ebenda). Im Anschluss an diese Ausführungen verweist sie wiederum auf die Komplexität der Wirkung des Psychodramas und plädiert dafür, die Frage nach der Wirkung (resp. den Wirkungen) des Psychodramas nicht unangebracht zu vereinfachen.  

 

Roland Springer betont, dass das Psychodrama sowohl neue emotionale Erfahrungen ermögliche – hier nennt er z.B. die „telische Begegnung mit anderen Menschen“ und „kathartische Momente“- als auch kognitive Erfahrungen, z.B. „durch Reflexion emotionaler Ergebnisse, Feedback“ (Springer, 1995, S.100). Somit argumentiert er parallel zu Zeintlinger-Hochreiter, vermeidet es jedoch, die Ziele, bzw. Wirkungen des Psychodramas direkt von erlebter Katharsis im Psychodrama abhängig zu machen. Als übergreifende Zielsetzungen psychodramatischer Therapie nennt er u.a. „die Fähigkeit zu spontanem, kreativem Handeln“, sowie „die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Verbesserung der eigenen Beziehung zur Welt und zu ihren kosmischen Gesetzen“ (ebenda, S.101).

 

Anne Schützenberger-Ancelin hebt hervor, dass es Moreno gewesen sei, welcher der Katharsis einen direkten Sinn verliehen habe – er suche sie und setze sie ein. Die Autorin versucht sich daran, die Emotionen zu beschreiben, welche – nach ihren Aussagen – eine Katharsis begleiteten, wenn sie schreibt, dass „es sich bei der Katharsis um eine Erleichterung nach einem Zustand außergewöhnlicher Spannung, um ein Aufwallen, einen emotionalen Gipfel handelt, in dem der Widerstand gebrochen, die Gefühle aufgetaut, die Schlacke entfernt werden, die eine Befreiung von der Vergangenheit und eine Änderung hervorrufen, von der aus eine Aktion des Wiederaufbaus mit einer Abreaktion und einer Bewusstwerdung (mittelbar oder unmittelbar) möglich ist, die es erlaubt, die Schwelle zu überschreiten“ (Schützenberger-Ancelin,1979, S.126). Anhand dieser Aussagen wird deutlich, dass die Autorin, indem sie die Katharsis nicht fundamental mit der Handlung als Grundvoraussetzung, bzw. Bedingung in Zusammenhang bringt, bestimmend von der oben dargestellten Konzeption Breuers und Freuds geleitet wird. Sie berichtet von der tiefgreifenden Wirkung der Katharsis im Psychodrama und hält diese außerdem für eine der Dimensionen jeder analytischen Psychotherapie.

 

Für Volker Riegels bildet die Katharsis einen Grundpfeiler des Psychodramas – erst im Zusammenhang mit der Katharsis bekomme das Handeln als therapeutisches Prinzip seine Bedeutung. Riegels versteht unter Katharsis das „Auftauen und Freisetzen von gehemmten und verdrängten Gefühlen, das intensive Durchleben einer traumatischen Situation und die Befreiung vom Trauma“ (Riegels, 1981, S. 59). Er folgt damit bezüglich der (möglichen) Wirkung von Katharsis wie Schützenberger-Ancelin der Konzeption Breuers und Freuds – betont jedoch, dass diese erst durch das Handeln ermöglicht werde, womit er die Voraussetzungen enger gefasst sehen will.

 

Um die Wirkung der Katharsis zu stabilisieren, bzw. deren therapeutischen Effekt zu verbessern, würden in der sich der Spielphase anschließenden Gesprächsphase die einzelnen Szenen gemeinsam durchgearbeitet, wodurch für den Protagonisten eine Bewusstwerdung gefördert werde, welche wiederum Basis für den Aufbau neuer Erlebnis- und Verhaltensweisen werden könne. Des Weiteren würden bisher nicht zu erkennende Zusammenhänge ersichtlich.

 

Grete Leutz verweist unter Bezugnahme auf die traditionelle Bedeutung des Begriffes Katharsis auf den Befreiungscharakter derselben – insofern, dass in der Befreiung „unser Verhältnis zum Sein als unserem Grund nicht mehr durch ich-fixiertes In-der-Welt-sein verstellt wird“ (Leutz, 1974, S.141). Es werde also befreit vom reinen Ich-verhafteten zum bloßen Sein – das Sein spreche für sich. Ein in einem solchen Sein gründendes Dasein bliebe unbedroht von der „Selbstentfremdung als der eigentlichen Entfremdung vom Sein“ (ebenda). Allerdings sei der Mensch – so die Autorin unter Verweis auf Moreno – durch seine Ich-Fixierung – der „Ich-Seuche“ (ebenda) in massive Probleme der Blockierung seiner kreativen Kräfte verwickelt, ein Zustand der oft nur durch eine umfassende Reinigung mittels einer Katharsis behoben werden könne. Im Folgenden gibt die Autorin die unterschiedlichen Ausprägungen, resp. die Bedeutung der Katharsis nach Moreno wieder: Katharsis als Mittel der Freisetzung von Spontaneität und deren Transformation in Kreativität. „Allerdings kommt es […] nicht nur auf die Freisetzung der Katharsis an, sondern wie bei der Freisetzung der menschlichen Spontaneität im Allgemeinen auf ihre Umwandlung in Kreativität. In der durch die Katharsis gegebenen Möglichkeit zu einem Neuanfang und zur Entfaltung der menschlichen Kreativität […] erblickt Moreno die eigentliche Bedeutung der Katharsis und spricht daher ganz allgemein von der kreativen Katharsis“ (ebenda, S. 142).

 

Jakob Levi Moreno selbst spricht auf einer allgemeinen Ebene von der geistigen Katharsis, welche für den Menschen zur „Reinigung seiner unreinen Emotionen“ (Moreno, 2001, S. 87) unerlässlich sei. Die Notwendigkeit einer solchen Reinigung durch eine geistige Katharsis ergebe sich aus dem Ungleichgewicht, in welchen sich der Mensch dadurch befinde, dass er nicht genügend Spontaneität aufzubringen in der Lage sei , um dem Wandel zu begegnen, welchem er ausgesetzt sei.

 

Bezüglich des Psychodramas spricht Moreno – und dies kann als der Kernpunkt seiner diesbezüglichen Aussagen bezeichnet werden – von der „Aktions-“, bzw. „Handlungskatharsis“, welche sich aus den spontanen Handlungen in der Gruppe entwickele: „Psychodrama kann […] als diejenige Methode bezeichnet werden, welche die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet. Die Katharsis, die sie hervorruft, ist daher eine ‘Handlungskatharsis’„ (Moreno, 1959, S.77, Hervorhebung im Original).

 

Allerdings sieht Moreno in dieser Art der Katharsis auch ein universelles Phänomen, welches selbst in der eher durch Diskussionen bestimmten Art der Gruppenpsychotherapie vorkomme (vgl. Moreno, 1959, S. 57).

 

Des Weiteren spricht Moreno von der „Observationskatharsis“, bzw. „Zuschauerkatharsis“, welche „durch sich identifizierendes Beobachten von Handlungen“ (Springer, a.a.O., S. 100) entsteht.

 

Neben diesen subjektiven Formen der Katharsis betont Moreno die Bedeutung der „Gruppenkatharsis“, welche ein „Katharsis der Integration“ (Moreno, a.a.O., S. 57) sei – ausgelöst durch die hilfreichen Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern.

 

Moreno unterscheidet im Hinblick auf die Genese einer psychodramatischen Sichtweise der Katharsis zwischen „passiver Katharsis“ – die eben erwähnte, auf Aristoteles zurückgehende Art der Katharsis, welche er als Observationskatharsis bezeichnet hat und „aktiver Katharsis“, wofür er auf das Beispiel östlicher Religionen verweist – hier müsse ein Heiliger, um ein Erlöser zu werden, handeln, indem er das Ideal seiner Religion in seinem Leben selbst verwirkliche und umsetze (vgl. ebenda, S. 314). Moreno sieht im psychodramatischen Konzept der Katharsis die Synthese dieser beiden Formen der Katharsis (Aktions- versus Observationskatharsis; passive versus aktive Katharsis) verwirklicht.

 

Bezüglich der Wirkung bleibt Moreno konsequent bei dem Gedanken der schöpferischen Kraft, der er alles Heilsame zuschreibt und deren Störung, bzw. Blockierung der Grund für die Symptome sei. Er verfolgt diesen Gedanken aber in durchaus realistischer Abschwächung. Nicht nur reine Schöpferkraft ist ihm die Rettung im Psychodrama, sondern Spontaneität und Kreativität in der Verbindung zur Realität, was zur Einführung des Realitätsprinzips (Realitätsprobe) und zu einer Dynamisierung des Katharsisbegriffs führt.

3.2 Kritische Bewertung der Positionen

Ein Aspekt bezüglich der oben dargestellten Positionen hinsichtlich der Katharsis im Psychodrama, der wirklich deutlich, bzw. klar zu sein scheint, ist die Unklarheit – besser gesagt, die Uneindeutigkeit der Aussagen, welche an einigen Stellen einer offensichtlichen Widersprüchlichkeit nicht entbehren kann.

Ernst Engelke bleibt bei seiner Darstellung des Psychodramas auf einer beschreibenden Ebene, argumentiert nahe an den Aussagen Morenos und hält sich mit eigenen Bewertungen zurück. Er misst der Katharsis im Psychodrama einen zentralen Stellenwert zu, bleibt jedoch bei Andeutungen bezüglich der konkreten Wirkung der Kathar­sis. Er kann weder angeben, unter welchen Bedingungen eine Katharsis stattfindet, noch, welche Konsequenzen kathartische Prozesse für den Einzelnen haben, geschweige denn, wie kathartische Prozesse gezielt herbeigeführt werden könnten.

Sigrid Löwen-Seifert vertritt, obwohl ihr die psychoanalytische Ausrichtung deutlich anzumerken ist, eine integrative, weitreichende Position bezüglich der konkreten Ausgestaltung einer wirkungsvollen Psychotherapie. Sie weiß, dass es gilt, diesbezüglich die umfassenden Möglichkeiten des Psychodramas zu nutzen und verweist dabei auf die Bedeutung der therapeutischen Interaktion – ein Ansatz, welcher gerade im Hinblick auf die daraus resultierenden Möglichkeiten psychotherapeutischer Praxis durchaus einer humanistisch-psychologischen Perspektive Rechnung tragen könnte. Dadurch, dass die Autorin ihren Ansatz durch Beispiele ihrer praktischen Arbeit als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche veranschaulicht, werden die umfangreichen Einsatzmöglichkeiten des Psychodramas glaubhaft angedeutet – gleichzeitig werden Hinweise auf anthropologische und theoretische Grundlagen des Psychodramas gegeben. Leider verengt sich der Blickwinkel Löwen-Seiferts schließlich dadurch, dass sie die vorher im Ansatz dargestellten komplexen Wirkungen von (psychotherapeutischen) Interaktionen auf das nur mangelhaft eruierbare Phänomen der Katharsis reduziert.

Karin Zeintlinger-Hochreiter bleibt uneindeutig in ihrer Position, wenn sie, wie oben angedeutet, einerseits das Psychodrama unter Berufung auf Moreno auf den Effekt der Katharsis reduziert (vgl. Zeintlinger-Hochreiter, a.a.O., S.113) – andererseits aber auf die enorme Komplexität der Wirkung des Psychodramas hinweist (ebenda, S. 114f). Des Weiteren kann auch sie nur vage bleiben in der Beschreibung dessen, was unter einer Katharsis konkret zu verstehen ist, unter welchen Bedingungen sie zu Stande kommt, etc. Die Autorin muss sich in diesem Zusammenhang damit begnügen, die ebenso unklaren Aussagen Morenos wiederzugeben.    

Roland Springer belässt es dabei, die Gedanken Morenos zum Thema Katharsis ansatzweise wiederzugeben, wobei er Moreno bezüglich des Stellenwertes der Katharsis anders interpretiert als z.B. Schützenberger-Ancelin oder Riegels, indem er anmerkt, dass es im psychodramatischen Spiel „ im optimalen Falle“ zu einer Katharsis komme. Der Autor vermeidet es – möglicherweise im Hinblick auf die mangelnde Operationalisierbarkeit der Thematik – weitergehende Vermutungen bezüglich der konkreten Beschaffenheit und der Voraussetzungen kathartischer Prozesse im Psychodrama anzustellen. Allerdings bleibt er dann auch hinsichtlich evtl. greifbarerer Zielsetzungen des Psychodramas dabei, die Aussagen Morenos selbst, bzw. anderer Psychodramatiker darzulegen, anstatt sich dieser Fragestellung eingehender zu widmen.

Anne Schützenberger-Ancelin hebt die Bedeutung der Katharsis hervor – sowohl im Allgemeinen, als auch in Bezug auf Moreno und das Psychodrama. Wie Löwen-Seifert ist ihr die psychoanalytische Schule anzumerken – auch sie ist sich der Wichtigkeit der Katharsis sicher und sie bemüht sich aufzuzeigen, was im Einzelnen passiert, wenn eine Katharsis erlebt wird. Auch wenn dieser Versuch, die Beschaffenheit des Phänomens der Katharsis aufzuzeigen, im Sinne einer qualitativ-psychologischen Vorgehensweise grundsätzlich als positiv zu bewerten ist, trägt er doch nicht zu einer erhöhten Klarheit bei. Einerseits erscheinen die angeführten Gefühlsqualitäten nicht sehr ausführlich dargestellt, teilweise vage – überdies willkürlich ausgewählt und zusammenhangslos – der Leser weiss nicht, unter welchen Umständen es zu einer Katharsis und den damit verbundenen Gefühlsqualitäten kommt – er fühlt sich lediglich aufgefordert anzunehmen und sich vorzustellen, dass es sich um „ein Aufwallen“, einen „emotionalen Gipfel“ handelt, wodurch „die Schlacken entfernt werden“ (Schützenberger-Ancelin, a.a.O., S.126). Auf der anderen Seite ist sich Schützenberger-Ancelin selbst nicht im Klaren darüber, was denn auf eine Katharsis folgt, d.h., wie sie konkret wirkt und was sie bewirkt (vgl. ebenda, S. 126f).      

Volker Riegels bezieht sich auf den therapeutischen Effekt der Katharsis, wenn er die Notwendigkeit der Integration des im Verlaufe des kathartischen Prozesses Erlebten mittels einer kognitiven Aufarbeitung der Inhalte in der Ge­sprächsphase des Psychodramas betont – eine Forderung, die sicherlich zu unterstützen ist. Allerdings kann (auch) er keinerlei Angaben über den kathartischen Prozess an sich machen. Dies hat zur Folge, dass der Leser hinsichtlich der Wirkungen eines Mechanismus seinen eigenen Spekulationen überlassen bleibt. Außerdem wird der Mechanismus nicht näher erläutert. Es erscheint evident, wenn Riegels davon ausgeht, dass es für den, bzw. die Beteiligten einen Gewinn darstellt, eine im psychodramatischen Spiel erlebte, emotional bedeutende Handlung nach dem Spiel „aufzuarbeiten“ – diese Aussage macht den Prozess an sich jedoch nicht begreifbarer.  

Grete Leutz bleibt wie andere Autor/Innen in der Terminologie Morenos – auch, wenn sie Morenos Gedanken hinsichtlich der Bedeutung der Katharsis für das klassische Psychodrama ausführlich wiedergibt, muss sie zahlreiche Fragen, z.B. nach dem Wesen kathartischer Phänomene unbeantwortet, bzw. offen lassen.

Im Gegensatz zu den oben dargestellten, überwiegend psychoanalytisch fundierten Erklärungsansätzen hält sich Leutz unmittelbar an Moreno, wenn sie die Wirkung der Katharsis vor allem im Hinblick auf das Aufbrechen blockierter Kreativität beschreibt (vgl. Leutz, a.a.O., S. 142) – was eine weniger universelle Bedeutung der Katharsis im Rahmen der umfangreichen Anwendungsmöglichkeiten des Psychodramas bedeutet. Universell wären kathartische Momente dann lediglich im Hinblick auf eine psychodramatische Therapie, wobei es – wie oben angeführt – um eine durch die Katharsis zu erreichende Freisetzung von Spontaneität und deren Umwandlung in Kreativität geht. Dafür, dass Moreno selbst – so die Autorin – „die Untersuchung und therapeutische Verwertung kathartischer Phänomene seit Beginn seines Schaffens als eine wesentliche theoretische und praktische Grundlage der Psychodramatherapie betrachtet“ hat (ebenda), kann auch Grete Leutz wenig Konkretes über eben diese Phänomene aussagen.

Bei Jakob Levi Moreno können, dadurch, dass er zwischen den verschiedenen Arten von Katharsis unterscheidet, dementsprechend viele jeweils subjektive Erlebnisweisen als kathartische Phänomene bezeichnet, resp. als solche interpretiert werden. Die durch seine Arbeit vorgenommene Erweiterung des Katharsiskonzeption der Psychoanalyse bedeutet über die schlichte Erweiterung hinaus eine Integration, welche im Psychodrama mündet. Hier kann der Mensch handelnd und damit umfassend präsent sein, hier ist es nach Moreno möglich, dass Katharsis nicht nur innerhalb des Individuums stattfindet, sondern auch zwischen Individuen, welche in einer konkreten Situation miteinander verbunden sind, etc. Auf der anderen Seite bedeutet diese Fülle an Möglichkeiten aber auch ein Mehr an Unklarheit: Bei Moreno sind kathartische Phänomene gewissermaßen in nahezu jeder Situation und für jeden Menschen möglich – sogar für mehrere Menschen gleichzeitig. Leider ist Moreno selbst keine qualitative, systematische und hinreichende Untersuchung der Katharsis gelungen. Obwohl er – im Hinblick auf den stetigen Wandel der Kulturen und den daraus resultierenden Anforderungen an die spontanen Anpassungsleistungen der Menschen – immer wieder auf die Notwendigkeit des Neuentwurfes von kulturellen Konserven („Dekonservierung“, „Vitalisierung von Kulturkonserven“- vgl. Moreno, 2001, S. 77ff) hingewiesen hat, ist es auch seinen Nachfolgern bisher nicht gelungen, eine angemessene, entsprechend „vitalisierte“ Konzeption der Katharsis zu entwickeln.    

  1. Erlebnisberichte über Wirkungen des Humanistischen Psychodramas

Im Rahmen der Fortbildungsveranstaltungen „Humanistisches Psychodrama“ des Psychotherapeutischen Instituts Bergerhausen in Duisburg wurden verschiedene Protagonisten gebeten, ihre während eines umfangreicheres Psychodrama-Spiels aufgetretenen Erfahrungen, bzw. Erlebnisse zu protokollieren. Auf diese Weise sollte geklärt werden, inwiefern die Protagonist/Innen eine Erlebnissituation beschreiben, welche in den oben dargestellten Kriterien einer Katharsis wiederzufinden sind. Darüber hinaus waren Hinweise zu erwarten hinsichtlich der spezifischen Wirkungsweise humanistisch-psychodramatischer Handlungsprozesse.

Im Folgenden werden sechs Protokolle vorgestellt und anschießend die Bewertungen der Erfahrungen.

U.

Ich habe das Psychodrama hauptsächlich in der Rolle meiner Freundin gespielt, ich war während des ganzen Spiels ein anderer.

In der Erwärmung schilderte ich eine Szene, wie ich mit meiner Freundin im Bett liege, sie schläft, aber ich möchte von ihr gestreichelt werden. Im Rollentausch mit meiner Freundin spürte ich, wie dieser Rainer neben mir mich belästigte, mich in den „Schwitzkasten“ packen wollte. An dieser Stelle war ich auch sehr körperberührungsempfindlich. Ich zuckte zusammen, wenn seine gierige Hand nach mir griff. Mein Doppel und ich stellten fest, dass diese Berührungen schrecklich sind. Dazu forderte der neben mir liegende Rainer verbal, dass ich ihn lieb haben solle. Diese Forderung und die Berührungen, die mich so zusammenzucken ließen, wurden nun im weiteren Verlauf verstärkt. Viele Leute aus der Gruppe begannen mich zu „jagen“ und wollten von mir „geliebt werden „. Ich konnte keine Berührung vertragen und die Gruppe verfolgte mich mit Worten und Berührungen. Ich wollte raus, raus, raus. Ich drohte einem aus der Gruppe, ihn zu schlagen, wenn er mich noch einmal berührte. Ich griff mir diesen einen heraus, um wenigstens diese Belästigung loszuwerden. Mein Verstand arbeitete vollkommen klar, ich wusste, dass wir nur ein Psychodrama spielen und bat den Leiter sogar aufzuhören mit diesem Scheiß-Psychodrama. Ich spürte es am eigenen Körper, wie es ist, wenn von jemandem Liebe gefordert wird, was ich damals in der Beziehung zu meiner Freundin ja auch tat.

Ich schaffte es dann, mich von den Hilfs-Ichs zu befreien und machte dann wieder einen Rollentausch, war wieder Rainer. Ich ging zu meiner Freundin, die damals von Marianne gespielt wurde und heulte sie an, heulte sie einfach an. Ich hatte verstanden, wie sie sich gefühlt hat, und es wurde mir auch klar, dass ich dieses Gefühl, betatscht zu werden, von Liebesforderungen überhäuft zu werden, von meiner Mutter kenne. Ich liebte damals genau so, wie meine taubstumme Mutter mich liebte, versuchte mich zu lieben.

Ich habe nach dem Psychodrama mit der unglücklichen Beziehung Schluss gemacht. Auch im Psychodrama-Spiel verabschiedete ich mich von der Freundin. So wollte ich sie nicht lieben, das war unerträglich, das habe ich selbst durchgemacht. Der Rollentausch war fast perfekt, denn ich spürte dieselbe Berührungsempfindlichkeit, die meine Freundin tatsächlich hatte, wenn sie mit mir zusammen war. Als Befreiung erlebte ich, dass die Grup­pe endlich von mir abließ, aber es war ein sehr langer Weg bis dahin. Als sie von mir abließ, hatte ich gewonnen und war frei und endlich in Ruhe.

Ich hatte nach dem Psychodrama ein großes Gefühl der inneren Ruhe und das Gefühl, dass ich mein Körper bin und der nur mir gehört. Es war wichtig zu erfahren, den Körper des anderen zu achten. Erst nach dem Psychodrama wusste ich warum.

Durch das Psychodramaspiel habe ich eine Wahrnehmungserweiterung erlebt, konnte den anderen voll und ganz verstehen. Im Kopf wusste ich, dass die Liebe zu meiner Freundin krank war, jetzt hatte das Gefühl es auch kapiert. Es war eine Lernsituation für das Gefühl, ein „Aha-Erlebnis“ für meinen Gefühlsbereich. Ich habe eine Art Umkehr erfahren. Eine Neuorientierung, mit der ich mich glücklicher fühlte als zuvor. Mein Psychodrama lässt sich sicher auf vielen Ebenen deuten, denn ich erfüllte mir ja auch den Wunsch, dass die ganze Gruppe hinter mir her rennt und meine Liebe fordert. Das ist ja sicher auch ein Wunsch von mir, den ich mir zwar verbiete, aber der auch da ist. Eine andere Ebene ist sicher die, dass ich frühere Erlebnisse mit meiner Mutter nachspielte und ausagierte, die mich ja auch übermäßig lieben wollte. Ich bin froh, dass ich es jetzt hinter mir habe und bin ganz zufrieden damit.

O.

Unsere älteste Tochter nahm sich mit 21 Jahren das Leben ohne Abschied, nachdem wir dachten, sie wäre über ihre Depressionen hinweg.

Im Rollentausch mit meiner verstorbenen Tochter erfuhr ich, dass sie keinen Abschiedsbrief schreiben konnte, weil sie dazu keine Kraft mehr hatte. Für den Entschluss, sich das Leben zu nehmen, brauchte sie alle Kräfte.

Ich erlebte eine ungeheuere Erleichterung, als mir klar wurde: Unsere Tochter hat sich aus Liebe zu uns nicht verabschieden können. Sie hatte den Entschluss gefasst ohne uns. Es war ihr Entschluss. Nun konnte ich ihn akzeptieren.

U.

In einem Psychodrama-Seminar 1981 in Burg Bergerhausen lernte ich meine positiven Gefühle meiner Mutter gegenüber wieder wahrzunehmen und mir bewusst zu machen. Bis dahin nahm ich wohl nur die „negativen“ wahr. Ich konnte mich von meinem „ alten“ Mutterbild befreien und kann jetzt sagen, dass das Psychodrama der Auslöser für eine bessere, herzliche Beziehung zu meiner Mutter gewesen ist.

Wenn ich zurückdenke, weiß ich noch, dass mir nach dem Psychodrama „nichts“ klar war. Ich war verwirrt, und irgendwie fühlte ich mich auch befreit und erlöst. Es war etwas geschehen, ohne dass ich jetzt sofort eine Lösung für die Zukunft hatte. Mein Thema war: Konflikt mit der Mutter. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich festhalten will, an sich klammern – und ich will mich von ihr loslösen, weg, weg, weg von ihr. Bloß wie?

Dieses Hin- und Hergerissensein, dieses Gefühl an der Mutter hängen zu bleiben und los-, fort zu wollen, wurde dann auf der Bühne inszeniert.

Interessanterweise tauchte dann auch noch mein leiblicher Vater auf, der mich aufforderte, von der Mutter wegzugehen.

Durch Zerren der Hilfs-Ichs an mir – hin und hier und hin und her, zur Mutter, weg von der Mutter, kam ich immer stärker in dieses Gefühl. Die Handlung wurde intensiver. Ich fühlte mich hin- und hergerissen, und war nicht gewillt, an dem Zustand etwas zu verändern, bis ich es dann nicht mehr ertragen wollte und mich schließlich doch losriss, meiner Mutter klar machte, weshalb ich gehe, und dann schließlich ging.

Bevor ich mich losreißen konnte, habe ich mich wirklich hilflos- und machtlos gefühlt, zwischen zwei Kräften, die mit mir machen können, was sie wollen. Ich habe mich als Spielball dieser beiden Mächte erlebt.

Meiner Mutter habe ich in dieser Zeit auch immer die Absicht unterstellt, all das, was sie für mich tut, macht sie, um mich an sie zu klammern. Das tut sie deshalb, um es mir so schwer wie möglich zu machen, von ihr loszukommen.

All die Zuwendungen, Wäsche waschen, Schuhe putzen, … und ich wehrte mich dagegen, ließ es mir aber trotzdem gefallen. So war immer Streit im Haus. Und diesen Streit wollte ich nicht, deshalb musste ich von zu Hause weg, dachte ich.

Nach dem Psychodrama-Spiel – so nach und nach – kamen dann die Erleuchtungen. Ich erkannte, dass ich mich im Psychodrama mit meinem Mutterbild auseinander gesetzt habe, welches in mir ist (die mich an sich klammernde Mutter), und dieses Bild in mir verwehrte mir den Kontakt mit der realen Mutter. Ich konnte nun mit der Zeit meine positiven Gefühle meiner Mutter gegenüber wieder wahrnehmen und auch ausdrücken. Unsere Beziehung wurde wieder herzlich.

H.

Als Protagonist wollte ich zwei Gefühlsgegensätze aufbauen, um sie gegeneinander abzuwägen. Beim Versuch, dass eine Gefühl mit einem Hilfs-Ich aufzubauen, geschah Folgendes: Ich wandte mich zuerst dem positiven Gefühl zu und erlebte in Phantasie/Realität, wie schön es war, konnte das aber nicht richtig genießen. Mit Psychodrama-Methoden wurde mir im Spiel bewusst, dass es so ist, als ob ich in einer Glocke von positiven Möglichkeiten, die ich habe, gefangen sitze, und keine mit Lust nutzen oder auskosten kann. Etwas hält mich am Boden. Als ich dieses Gefühl, das „mich-am-Boden-Haltende“, mittels Hilfs-Ich personifiziere, und als diese Person auf mich zukommt, wird mir schlagartig bewusst: Das ist meine Mutter. Schon wieder mal meine Mutter. Und mir wird heiß und kalt und mir brechen die Tränen aus.

Die im Spiel erlebte Erfahrung kommt mir in den folgenden Tagen zwar selten, aber doch einige Male hoch. Zum Beispiel in folgender Situation:

Ich habe etwas Schwieriges mit Erfolg geleistet und stehe vor meinem gelungenen Werk. Freude kommt auf und ein bohrender Zweifelsgedanke: „War das genug geleistet?“ Sofort kommt mir das Psychodrama-Bild in Erinnerung mit der „Glocke der Möglichkeiten“ und der glücksversagenden Mutter. Danach kann ich guten Gefühls das Glück, eine schwere Sache mit Erfolg abgeschlossen zu haben, genießen.

G.

Ich erinnere mich besonders an ein Spiel mit meinen Eltern. Es handelte sich um eine Szene, in der ich 13 Jahre alt war. Ich wollte mit meiner Freundin nach Düsseldorf fahren, meine Eltern gaben mir jedoch keine Erlaubnis dazu. Wir spielten, wie meine Eltern und ich beim Mittagessen saßen und diskutierten. Ich war sehr aufgeregt, habe sehr viel geredet, aber nicht gehandelt.

In einer weiteren Szene – ein Gespräch mit meiner Mutter einige Jahre später – habe ich im Rollentausch mit meiner Mutter eine wichtige Erfahrung gemacht, die durch das Doppel vermittelt wurde: „Ich bin eigentlich gar nicht böse, du kannst ja gehen“, sagt die Mutter.

Dieser ganz neue Gedanke hat auch eine gefühlsmäßige Veränderung ausgelöst. Vorher hatte ich meiner Mutter gegenüber Gefühle von Aggression und Hilflosigkeit. Ich hatte Angst, sie zu verletzen, aus Angst vor ihrer Vergeltung. Nachdem das Hilfs-Ich für mich die ideale Mutter gespielt hat -„Ich bin nicht böse“ – konnte ich mich von meiner wirklichen Mutter distanzieren und das Gefühl – „Ich habe kein Recht darauf, mich durchzusetzen“ – konnte ich ablegen.

M.

In meinem Psychodrama ging es um Depression. Mir fielen dazu drei Szenen ein, die nacheinander gespielt wurden. Die letzte, die zeitlich am weitesten zurück lag, spielte in der Zeit, als meine Mutter mit mir schwanger war. Sie unterhielt sich mit meinem Vater darüber, dass sie mich eigentlich nicht haben wollte, ich ihr zu viel sei.

Ich empfand noch einmal die ganze Traurigkeit des ungeborenen Kindes, das nicht gewünscht war, und war bekümmert darüber, für meine arme Mutter eine solche Last zu sein.

Diese Bedrückung nahm ich mit durch’s Leben. Ich erlebte noch einmal im Spiel einzelne Stationen, spürte, wie die Traurigkeit mich passiv und klein halten wollte, wie viel Energie es mich gekostet hat, trotzdem zu leben und zu wachsen. Ich erfuhr noch einmal ein Nicht-erwünscht-sein, als mein Mann mich verließ, spürte, dass selbst heute, wo ich geliebt und gebraucht werde, die Depression noch bei mir war, ich sie als Teil von mir gar nicht wegschicken konnte. Erst als ich (im Spiel) mein jetziges Alter erreicht hatte und als erwachsene Frau meiner Mutter wieder gegenüber stand, konnte ich mich von der Depression lösen. Ich begriff mit meinem jetzigen Wissen meine Mutter: Warum sie mich nicht haben wollte, dass sie mich nicht als Mariele abgelehnt hat, dass ich schuldlos an ihrer Belastung war. Ich erkannte blitzartig, dass die Ablehnung meiner Mutter aktuell nicht mehr gefährdend für mich war.

Sie hatte ihr Bestes gegeben, und ich brauchte sie nicht mehr. Ein Gefühl von Befreiung verdrängte die Traurigkeit. Mir war, als könnte ich jetzt erst richtig aufrecht gehen, ich konnte durchatmen. Ein Gefühl von Freude war da, von „Richtigkeit“, von Neugier auf Leben.

Vor einem halben Jahr habe ich das Psychodrama gespielt. Seitdem habe ich keine Depression gehabt.

4.1 Bewertung der Erfahrungen

Die Untersuchung der vorliegenden Protokolle veranschaulicht die Unangemessenheit einer reduk­tio­nistischen Auffassung bezüglich der Wirkungsweise psychodramatischer Prozesse, welche, wie oben angeführt, so weit gehen kann, eine (wie auch immer erlebte) Katharsis, eine starkes emotionales Erlebnis als Ziel psychodramatischen Handelns zu erklären. Wie die folgenden Textausschnitte verdeutlichen, ist es nicht die bloße Gefühlsabreaktion, welche für die entscheidende Wandlung im Erleben der Protagonistin, bzw. des Protagonisten gesorgt hat, sondern die kognitive und emotionale Einsicht, welche sich aus dem Erlebten heraus entwickelte:

  • R.U.   “Durch das Psychodramaspiel habe ich eine Wahrnehmungserweiterung erlebt, konnte den anderen voll und ganz verstehen. Im Kopf wusste ich, dass die Liebe zu meiner Freundin krank war, jetzt hatte das Gefühl es auch kapiert. Es war eine Lernsituation für das Gefühl, ein Aha-Erlebnis für meinen Gefühlsbereich. Ich habe eine Art Umkehr erfahren. Eine Neuorientierung, mit der ich mich glücklicher fühlte als zuvor.”

  •  K.O.   “Ich erlebte eine ungeheuere Erleichterung, als mir klar wurde …”

  • S.U.   “Ich erkannte, dass ich mich im Psychodrama mit meinem Mutterbild auseinander gesetzt habe, welches in mir ist (die mich an sich klammernde Mutter), und dieses Bild in mir verwehrte mir den Kontakt mit der realen Mutter. Ich konnte nun mit der Zeit meine positiven Gefühle meiner Mutter gegenüber wieder wahrnehmen und auch ausdrücken.”

  • D.H.   “… mir schlagartig bewusst …”

  • N.G.   “Dieser ganz neue Gedanke hat auch eine gefühlsmäßige Veränderung ausgelöst.”

Des Weiteren wird die Subjektivität der Wirkungsweise psychodramatischer Prozesse deutlich, welche sich trotz der Wichtigkeit der Handlung, der (Inter-)Aktion im Psychodrama nicht auf das Erleben einer Katharsis reduzieren lässt – subjektiv erlebte Veränderungen sind im Psychodrama auch ohne Katharsis möglich – und darüber hinaus von vielen weiteren Faktoren im psychodramatischen Spiel abhängig.

  1. Zur Überwindung der Katharsiskonzeption im Humanistischen Psychodrama

Eine wie auch immer geartete Fixierung des Psychodramas auf eine spezielle, überdies nur vage und unklar beschreibbaren Wirkung führt letztendlich zu einer Reduzierung, welche das Psychodrama selbst und seine zahlreichen Methoden und Einsatzmöglichkeiten als Mittel zu einem vordefinierten Zweck verkommen ließen. Dies bedeutet eine Starrheit, welche den grundlegenden Prinzipien des Psychodramas im Allgemeinen und des Humanistischen Psychodramas im Besonderen zuwiderläuft. Strenggenommen – dies sollte im Verlauf der vorangegangenen Erörterungen deutlich geworden sein – kann innerhalb der verschiedenen psychodramatischen Ausrichtungen nicht von einer vorliegenden Konzeption der Katharsis gesprochen werden. Was man in diesem Zusammenhang vorfindet ist – um mit Morenos Worte zu sprechen – schon längst zur kulturellen Konserve erstarrt, dessen Vitalisierung und Erweiterung (bisher) weitgehend misslungen ist.

Aufgrund dieser Erkenntnisse ist es angebracht, sich hinsichtlich der Fokussierung auf Ziele und Wirkung psychodramatischer Prozesse darauf zu konzentrieren, was im Einzelnen geschieht, d.h., die einzelnen Wirkungsmechanismen präzise zu ermitteln und dabei nach neuen Wegen der Beschreibung beobachteter Phänomene zu suchen, anstatt auf erstarrte und gleichzeitig unklare Kategorien zurückzugreifen. Sicherlich bereitet eine solche Arbeit aufgrund der Komplexität der im Psychodrama ablaufenden Prozesse methodische Schwierigkeiten. Diese sollten jedoch nicht zum Anlass genommen werden, begangene Fehler zu wiederholen, bzw. weiterzuführen. Über methodische Hindernisse hinaus besteht bezüglich der wissenschaftlichen Legitimation der phänomenologisch-hermeneutisch fundierten Therapieverfahren noch immer eine starke Skepsis. Verstärkte Bemühungen im Rahmen qualitativer Forschung, etwa mittels Einzelfallstudien, sind noch immer sehr unpopulär und überdies nicht einträglich.

Im Humanistischen Psychodrama ergibt sich der Schritt in Richtung einer Überwindung der Katharsis, bzw. der Überwindung des Anhaftens an eine obsolet gewordene Konzeption der Katharsis aus einem dem Humanistischen Psychodrama zugrundeliegenden humanistisch-psychologischen Menschenbild. Dabei wird u.a. davon ausgegangen, dass dem Menschen ein natürliches Bedürfnis innewohnt, zu wachsen und sich selbst zu verwirklichen (vgl. Gessmann, 1995, S. 9). Die daraus abzuleitenden Ziele und Intentionen der psychodramatischen Praxis beziehen sich auf die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in sozialer Verantwortung. Sie lassen sich aus den oben angeführten Gründen nicht unter Anwendung der existierenden Auffassungen von Katharsis befördern, vielmehr gelingt die Umsetzung der Ziele durch eine konstruktive, vitalisierende und damit kreative Überwindung derselben.

Literatur

Burkart, Veronika: Befreiung durch Aktionen. Böhlau/Wien, 1972

Battegay, Raymond: Der Mensch in der Gruppe. Band III, Hans Huber Verlag, Bern, Stuttgart, Wien, 1972;2

Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19., völlig neu bearbeitete Ausgabe, Brockhaus Verlag,   Mannheim, 1987- 1994

Engelke, Ernst: Das Psychodrama und seine vielfältigen Möglichkeiten. In: Engelke (Hrsg.), Psychodrama in der Praxis. Pfeiffer, München, 1981

Faktum Lexikoninstitut: Lexikon der Psychologie, Gütersloh/München, 1995

Freud, Sigmund: Die Freudsche psychoanalytische Methode, 1904. In: Sigmund Freud: Darstellungen der Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt/M, 1969

Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Ges. Werke, Bd. I, Fischer, Frank­furt, 1972;4

Fuhrmann, Manfred (Hrsg.): Aristoteles – Poetik. München, 1976

Gessmann, H.-W.: Das Humanistische Psychodrama. In: Internationale Zeitschrift für Humanistisches Psychodrama, Heft 1, Juni 1995, Verlag des PIB, Duisburg, 1995

Gemoll, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, München/Wien, 1965;9

Kellermann, Felix: Fokus Psychodrama. Verlag des PIB, Duisburg, 2002

Leutz, Grete: Das Klassische Psychodrama nach J. L. Moreno. Springer, Berlin, 1974

Löwen-Seifert, Sigrid: Die Aktion in der therapeutischen Interaktion. In: Engelke (Hrsg.), Psychodrama in der Praxis. Pfeiffer, München, 1981

Moreno, J. L.: Gruppenpsychotherapie und Psychodrama, Thieme, Stuttgart, 1959

Moreno, J. L.: Psychodrama und Soziometrie, Edition Humanistische Psychologie, Köln, 2001

Pohlen, Manfred/Bautz-Holzherr, Margarethe: Psychoanalyse – Das Ende einer Deutungsmacht. Rowohlt, Hamburg, 1995

Schützenberger-Ancelin, Anne: Psychodrama – ein Abriss. Hippokrates Verlag, Stuttgart, 1979

Springer, Roland: Grundlagen einer Psychodrama-Pädagogik, inScenario Verlag, Köln, 1995

Zeintlinger-Hochreiter, Karoline: Kompendium der Psychodrama-Therapie. Analyse, Präzisierung und Reformulierung der Aussagen zur psychodramatischen Therapie nach J.L.Moreno. inScenario Verlag, Köln, 1996