ADHS bei Erwachsenen
Dr. med. Johannes Pichler - Übertragung aus dem Deutschen Evgeny Sheronov
Ungebremste Emotionen
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird fälschlicherweise oft als Erkrankung angesehen, die nur Kinder und Jugendliche betrifft. Dabei bleibt die Störung, die sich im Kindes- und Jugendalter herausbildet, bei etwa 60 Prozent der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter bestehen.
Menschen mit Depressionen, Sucht- und Angsterkrankungen sowie Persönlichkeitsstörungen werden oft nicht auf ADHS untersucht. Dabei sind diese typischen Folgeerkrankungen bei erwachsenen ADHS-Patienten weit verbreitet.
Insgesamt reagieren Erwachsene mit ADHS viel emotionaler als andere Menschen und empfinden Gefühle „ungebremster“. Das kann auch Vorteile haben: Einigen gelingt es nämlich, ihren Wust von Ideen kreativ für ihren beruflichen Erfolg zu nutzen.
Wandlung mit den Jahren
Das Beschwerdebild von ADHS bleibt nicht in jeder Altersstufe gleich, sondern wandelt sich mit dem Alter. Überaktivität und Impulsivität weichen oft einer allgemeinen Leistungs- und Konzentrationsschwäche. Fast alle erwachsenen ADHS-Patienten fühlen sich innerlich ruhelos und getrieben. Im Berufs- und im Privatleben erreichen sie oft nicht die Ziele, die sie sich ursprünglich gesteckt hatten. Viele leiden vor allem unter den sozialen Folgen von ADHS:
- Schlechtere Ausbildung und Karriereverlauf, als es der Begabung entspricht
- Schwierigkeiten im Berufsleben mit häufigem Jobwechsel
- Erhöhte Scheidungsrate
- Viele Wohnortwechsel, Umzüge
Checkliste
ADHS-Betroffene haben häufig erhebliche Schwierigkeiten im Alltag. Beispiele sind:
Organisation/Denkstruktur bei ADHS
- Fehlendes Zeitgefühl, Verspätungen und Hektik vor Terminen
- Langweilige Alltagsaufgaben werden auf die lange Bank geschoben oder gar nicht erledigt
- Auffällige Unordnung oder Überkompensation durch zwanghaften Perfektionismus
- Desorganisation – vor allem, wenn mehrerer Aufgaben gleichzeitig anstehen
Aufmerksamkeitsstörung bei ADHS
- Unbeständiges Arbeiten mit unerklärlichen Einbrüchen
- Vergessen von Aufgabenteilen mit unvollständigen Arbeitsergebnissen
- Fehlende Aufmerksamkeit, besonders in Gruppensituationen
- Leseunlust aufgrund von Verständnisschwierigkeiten für den Gesamtinhalt
ADHS und Arbeitsgedächtnis
- Vergesslichkeit, kann Erinnerungen nicht abrufen, zum Beispiel „Ich weiß es, kann es aber nicht sagen.“
- Flüchtigkeitsfehler, Verdrehen von Buchstaben und Telefonnummern
- Der Betroffene führt ständig Terminkalender, Karteikarten, Notizbücher und Zettel mit sich
Gesteigerte Wahrnehmung bei ADHS
- Sehr starke Empfindlichkeit für bestimmte Sinneseindrücke (zum Beispiel Geruch, Geschmack, Geräusche), aber auch für atmosphärische Spannungen in allen zwischenmenschlichen Beziehungen
- Oft intuitiv begabt, kreativ und intelligent
- Stimmung und Leistung sind besonders stark von äußeren Faktoren abhängig
- Temperamentsausbrüche in jede Richtung
Geringe Stress- und Frustrationstoleranz bei ADHS
- Übertriebenes Ruhebedürfnis bei Überforderung
- Probleme, sich auf neue Situationen einzustellen
- Andauerndes Grübeln, auch mit Einschlafstörungen
ADHS und Sucht- und Zwangsverhalten
- Viele zwanghafte Verhaltensmuster
- Versuch, die Leistungsfähigkeit mit hohen Mengen Schokolade, Kaffee, Cola, Energydrinks und Nikotin zu steigern
- Manche „behandeln“ ihre innere Anspannung mit Alkohol, Cannabis oder Kokain und verschlimmern die Situation dadurch
Hohe Impulsivität bei ADHS
- Erst handeln, dann denken
- Provokation anderer durch verbale Entgleisungen
- Erhöhte Unfallneigung
- Missachtung von Regeln, Gesetzen, Vorschriften
- Kann sich schlecht bremsen: Kaufrausch, riskantes Autofahren
ADHS und Überaktivität/Unfähigkeit zur Entspannung
- Innere Ruhelosigkeit, körperlicher Bewegungsdrang (viel Sport)
- Kann nicht stillsitzen (zum Beispiel beim Zahnarzt, Essen, im Flugzeug)
- Trommelt mit den Fingern, spielt mit Stiften, nestelt an sich herum
- Wippt im Sitzen mit den Füßen rhythmisch vor und zurück
- Starker Rededrang, Abschweifen vom Thema, schwer zu unterbrechen
- Langeweile in Ruhesituationen mit künstlicher Überaktivität
Weibliche Besonderheiten
Frauen leiden deutlich seltener als Männer unter ADHS und zeigen auch ein etwas anderes Beschwerdebild. Deshalb wird ADHS bei Frauen seltener erkannt. Mädchen mit ADHS sind weniger hyperaktiv, sondern neigen zu langanhaltenden Tagträumereien und sind schnell ablenkbar. Ab dem Zeitpunkt der Pubertät treten besonders ausgeprägte Beschwerden vor der Menstruation mit starken Stimmungsschwankungen auf. Erwachsene Frauen mit ADHS fallen durch eine sehr selbstunsichere, ängstliche Persönlichkeit mit einer starken Neigung zu Depressionen auf.
Die Behandlung
Erwachsene mit der Diagnose ADHS müssen sich nicht unbedingt behandeln lassen. Ist die Störung allerdings sehr ausgeprägt und beeinträchtigt mehrere Lebensbereiche (Beruf, Freizeit, Paarbeziehungen), ist eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie sinnvoll.
Nach heutigem Wissensstand lässt sich ADHS nicht heilen. Manchmal bilden sich die Störungen aber in höherem Alter teilweise zurück. Betroffene können Bewältigungsstrategien entwickeln, mit denen sie Alltag und Beruf erfolgreich meistern. Vor allem Schwierigkeiten mit der Arbeitsorganisation sowie der beruflichen und privaten Kommunikation sind gut verhaltenstherapeutisch behandelbar. Durch ein so genanntes Selbstinduktionstraining lernen ADHS-Patienten, wie sie ihr impulsives Verhalten kontrollieren können. Einzeln und in der Gruppe werden Verhaltensweisen eingeübt, die den Alltag mit den Kollegen, der Familie oder dem Partner verbessern.