ADHS - Wuschelige Therapeuten

(c) Petra Wörle

Andrea Bannert
Übertragung aus dem Deutschen – Evegny Sheronov

Es gibt Therapeuten, die brauchen keine Worte für ihre Arbeit. Mit runden Kulleraugen und langem Fell erobern sie das Vertrauen ihrer kleinen Patienten im Sturm. Bei der Hunde-Terapie lernen ADHS-Kinder Konzentration, Vertrauen und Selbstbewusstsein.

Es ist Freitag und damit Martins Glückstag. Genau wie der von Shirka, einem Mischlingshund mit ein paar Jährchen auf dem Fellbuckel und seidigem Fell wie Lassie. „Ran!“, ruft der Elfjährige, „Los, ran!, und kurvt wie ein Skifahrer um feuerwehrroten Slalom-Tore herum. Dicht am Bein klebt seine haarige Freundin, die er mit einem Stück Wiener besticht, sobald sie die Lust am Hüpfen, Springen, Rennen verliert. „Hopp!, kommandiert Martin, optisch ein moppeliger Michel aus Lönneberga, und wedelt mit der Wurst um Shirkas Schnauze herum. Weiß-schwarzes Fell und ein blonder Schopf fliegen beim gemeinsamen Ritt über die dottergelben Hürden. Der Trainingsparcours der beiden liegt am Stadtrand von München, weit ab vom rummeligen Stadtzentrum mit seinen Touristenströmen. Eine vergitterte Wiese, groß wie ein Fußballfeld, ein sattgrünes Gegenüber zum weiß-blauen Bayernhimmel, umschlossen von Bäumen und Feldern. Nur Traktoren dröhnen ab und zu über den Acker und lassen die Stille zerbersten. Das Hundetraining erfordert Konzentration, Koordination, Schnelligkeit, Gelenkigkeit, Vertrauen. Das alles sind Dinge, mit denen ein ADHS-Kind wie Martin so seine Probleme hat.

Ungebremste Reizüberflutung

Solche Glückstage kann Martin wirklich zählen. In der Schule hat er Schwierigkeiten mitzukommen, wird hibbelig, als hätte er Hummeln im Hintern; zu Hause erlebt er ständig, wie sich seine Eltern streiten, dass die Fetzen fliegen. „Mir wird schnell alles zu viel. Dann schreie ich rum oder fange an zu zappeln“, sagt er. Martins Nervensystem ist durch die vielen Außenreize überfordert, sein Gehirn unterscheidet nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen. Alles was er sieht und hört, strömt ungefiltert auf ihn ein. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, nennen das die Experten. Weil er sich nicht fokussieren kann, macht Martin Fehler in seinen Schularbeiten, bekommt schlechte Noten, wird ständig ermahnt. Lob ist rar in seinem Leben.

Aber heute bekommt er sogar tosenden Applaus. Fünf Jungen, etwa im gleichen Alter wie Martin, sitzen neben ihren wuscheligen Therapeuten auf der saftgrünen Maiwiese und klatschen anhaltend Beifall für Martins Parcours-Übung. „Gut gemacht, Martin“, sagt auch Petra Wörle und der Blondschopf grinst breit.

Vertrauen im Sturm erobert

Petra, eine ansteckend gut gelaunte Mittvierzigerin, leitet die Hunde-Therapie. Shirka ist ihr eigener Hund und steht ihr als Cotherapeutin treu zur Seite. „Shirka hat Martins Vertrauen sofort erobert. Ich hätte wahrscheinlich Wochen dafür gebraucht“, sagt Petra.

Shirka und ihre bellenden Kollegen suchen aktiv den Kontakt zu den Kindern. Deshalb eignen sie sich auch besser als Katze, Pferd, Schildkröte, Lama und Co. für die Therapie von ADHS-Kindern, die sich oft zurückziehen. Völlig ohne Worte mahnt Shirka, wenn Martin zappelig wird. „Sie quietscht dann wie ein Baby“, erzählt er. Im Gegensatz zum Großteil der 750.000 ADHS-Patienten in Deutschland nimmt er keine Medikamente gegen die Krankheit ein. Bei Shirka sind Nebenwirkungen ausgeschlossen.

Gemeinsam auf der Bühne

Dafür ist ihre Überzeugungskraft enorm: Sie konnte Martin sogar zu Auftritten vor Publikum „überreden“. „Das hätte ich mir früher nie zugetraut“, berichtet der Junge. An ihrem großen Tag tauscht das Team Martin/Shirka die grüne Wiese gegen eine Showarena, die mehr als 12.000 Zuschauer fasst. Anstelle des schwarzen Leinenhalsbands trägt die Hündin einen auffällig blau blinkenden Ring um den Hals, und auch Martin hat sich in Schale geworfen – ganz in Schwarz. Im Takt von „She’s got nothing on“ stolzieren die beiden mit 14 weiteren Hund-Kind-Teams dort ein, wo normalerweise Beyoncé und Robbie Williams auf der Bühne posen. Nur Martins angespannter Gesichtsausdruck verrät seine Nervosität.

„Platz“, ruft er mit Nachdruck und Shirka lässt sich prompt auf den Boden fallen, während Martin stramm weitermarschiert. Ein kurzer, verstohlener Kontrollblick gibt ihm Sicherheit, dass seine Freundin brav an Ort und Stelle liegen bleibt – aufgereiht in einer Kette mit 14 weiteren Vierbeinern. Die 180-Grad-Drehung macht er flink auf den Zehenspitzen. „Hier!“, fast zeitgleich quietscht Martin das Schlusskommando im Chor mit den anderen Kindern. Und Shirka rast zu ihm.

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